Vergessen

Ich sitze in einer Barke, umhüllt von meiner warmen Decke, treibe im Wasser. Um mich herum Menschen. Von ferne höre ich ihre Stimmen, sehe ihre Gesichter. Sie öffnen und schließen die Münder wie Karpfen. Den haben wir früher immer zu Weihnachten gegessen. Karpfen mit Petersilienkartoffeln, dazu einen Klacks Butter. Der Festtagsgeschmack steigt noch heute auf meine Zunge, wenn ich daran denke. Ich versuche, meine Augen offen zu halten, und blicke in Richtung Karpfengesichter. Höre ihre leisen Stimmen, ohne sie zu verstehen. Fremde Menschen, fremde Worte. Sie halten meine Hand, streicheln meine Wange. Sitzen einfach nur da. Sollen sie. Ich treibe weiter in dem kleinen Boot und wickle mich ein wenig fester in meine Decke. Manchmal scheint es, als flüsterten sie, immer leiser, bevor sie gänzlich verstummen. Zwischen uns zieht Nebel auf. Dann bekomme ich Angst, sie zu verlieren, diese Menschen, die ich gar nicht kenne, so als wären sie das Einzige, was mich in Ufernähe hält. Und plötzlich sind sie fort, lassen mich alleine auf dem Wasser. Gedankenfetzen fliegen durch meinen Kopf. Wortsplitter, Bilder. Früher habe ich viel nachgedacht. Jetzt lasse ich los. Kehren die Fremden zu meiner Barke zurück, fühle ich neues Erstaunen. Genieße das Streicheln meiner Wange, die Berührung meiner Hand. Es durchbricht meine Einsamkeit, denn hier ist nichts außer dem Boot, das mich auf das offene Meer tragen will. Um mich herum Dämmerlicht, es herrscht weder Nacht, noch Tag, und vom Ufer höre ich die Stimmen. Nebelschwaden vor meinen Augen – ich kann die Menschen nicht mehr sehen. Stehen sie noch an Land? Die Strömung zieht mich gen Meer, ich kümmere mich nicht mehr um die Laute. Stille.

Ferdinand S. wird im Alter von 87 Jahren nach langer Demenzerkrankung verstorben sein. Die letzten Jahre seines Lebens wird er im Bett eines Pflegeheims verbracht haben. Sein Sohn wird im Nachhinein versucht haben, die schleichende Zerstörung seines Gehirns nachzuvollziehen. Der Sohn wird in Worte gefasst haben, was der Kranke empfunden haben könnte, und niemals sagen konnte. Es wird immer nur ein Versuch geblieben sein, zu verstehen.

Der Endfünfziger verlässt das Haus. Endlich frei atmen. Oben in der Wohnung seines Vaters ist es stickig gewesen, wie immer. Er hatte nach dem Aufreißen der Fenster über Zugluft geklagt, wie jedes Mal beim Besuch seines Sohnes. Und wieder einmal hatte der seine Fragen heruntergeschluckt. Warum öffnet der Vater seine Rechnungen nicht? Er könnte doch jede von ihnen zehnfach bezahlen! Die Papiere waren über den Esstisch gekrochen, hatten keinen Zentimeter freigelassen. Verschlossene Umschläge, kaffeefleckige Zettel, vergilbte Fernsehzeitschriften. Über- und neben- und durcheinander. All das schien sein ordentlicher Vater nicht einmal zu merken. Warum?