Die 300 Euro, die er mir zum Geburtstag geschenkt hat, reichen für einen Füller vom Antikmarkt. Er ist schwarz, angeblich neunzig Jahre alt und hat ein blätterartiges, goldenes Geflecht auf der Kappe. Kauf Dir was Schönes, hat er gesagt. Und wenn schon. Gefreut hätte ich mich, wenn er mir einen Füller für meine Sammlung ausgesucht hätte. Oder etwas anderes. Aber die Zeit nimmt er sich nicht für mich, schon lange nicht mehr. Kauf Dir was Schönes und genieße den Tag. Das Geld habe ich in die mittlere Schublade Deiner Kommode gelegt, hat er gesagt. Dann: Seine Konferenz beginne, er umarme mich, müsse auflegen. Diese Worte höre ich an meinem Geburtstag, an einem Sonntag, von einer Geschäftsreise aus. Dass ich nicht lache. So eine Geschichte hätte er mir früher niemals aufgetischt. Wann haben seine Schwindeleien beginnen, wann sind sie zu fratzenhaften Lügen aufgeschossen? Ich schiebe diese Gedanken weg, es spielt keine Rolle. Natürlich liebt er mich. Es ist normal, dass seine Gefühle anders sind als zu Beginn unserer Beziehung. Ich darf die Realität nicht an meinen Wünschen messen, sondern muss mein Ideal zurechtstutzen. An meinem Geburtstag schlendere ich zwar alleine über den Markt, aber das scheint nur so. In Wirklichkeit ist er bei mir. Kauf Dir was Schönes und genieße den Tag. Mit dem neuen besitze ich jetzt zwölf Federhalter. Ich sammle ohne Konzept. Keine bestimmte Marke, keine Epoche, kein Material. Während die Füller vieler Sammler in Tresoren schlafen, kratzt jeden Tag eine andere Feder über die Seiten meines Tagebuches. Nur das Heft auf meinem Küchentisch wird erfahren, dass ich diesen Tag lieber mit ihm verbrächte. Wenn überhaupt. Wozu in Worte fassen, was ich nicht denken will? Aufgeschrieben ist wie ausgesprochen, der Keim der Zerstörung. Heute gefällt es mir auf dem Antikmarkt nicht so gut wie sonst. Wo ist die ruppige Zärtlichkeit der Menge? Ich spüre einen Ellenbogen in den Rippen. Ein Angriff? Drängelei vor einem Stand mit Schreibgeräten, ich komme kaum durch. Rücken ihre Körper enger zusammen? Ein Augenpaar ruht auf mir. Offene Verachtung? Den Füller habe ich bei einem anderen Händler gekauft. Hastig habe ich mitgenommen, was das Portemonnaie erlaubte, statt Stück für Stück zu berühren, zwischen Daumen und Zeigefinger ruhen zu lassen, der Sprache vergangener Jahre zu lauschen. Mit meinem neuen Federhalter in der Umhängetasche, dränge ich mich durch den Gang. Diesmal stoße und trete ich die anderen, aber das ist mir egal.
Die Frau mit der Tasche über der Schulter hastet über den Antikmarkt. Rempelt Menschen an. Ignoriert ihr Kopfschütteln, ihr Pöbeln.
Mein Herz rast, ich muss hier raus. Obwohl ich laufe, streicheln meine Sohlen den Asphalt wie in Zeitlupe. Ich sehe keine Gesichter mehr, nur noch Haut und Haare. Endlich stehe ich am Rande des Marktes, zu meiner Rechten die Bushaltestelle. Die fünf Stationen bis zu meinem Haus gehe ich zu Fuß, fürchte die Blicke der Fahrgäste, die Enge. Zurück in der Wohnung. Endlich. Ich koche mir einen Pfefferminztee, schlürfe ihn am Küchentisch, betrachte meinen neuen Füller. Das Goldgeflecht auf seiner Kappe wispert von den zwanziger Jahren, von Abendgesellschaften, Bällen, Salons. Wem er wohl gehört hat? Langsam tauche ich den Federhalter in das Tintenfass, ziehe die Flüssigkeit hoch. Königsblau. Ich will meinem Tagebuch von meinen Erlebnissen auf dem Antikmarkt erzählen.
Wider Erwarten hat seine Konferenz in Berlin nur eine Stunde gedauert…
Der Füller mit dem Goldgeflecht huscht über das Papier, während die Frau in das Heft schreibt. Sie sitzt an einem weiß gestrichenen Küchentisch, in der Mitte eine Glasvase mit gelben Tulpen, daneben ein Tintenfass. Vor ihr steht eine Tasse Tee.
… Wir wollen Schluss für heute machen, es ist schließlich Sonntag, hat sein Chef gesagt. Der Mann ist aus dem Tagungsraum gestürmt, hat zwei Hoteltreppenstufen auf einmal genommen, in seinem Zimmer Kulturbeutel, Tasche und Mantel geschnappt. Ist zur Rezeption gelaufen, dabei fast über seinen Gürtel gestolpert, hat ausgecheckt. Er ist mit dem Taxi zum Hauptbahnhof gefahren, hat vor dem Glaspalast einen Fünfziger aus der Hosentasche gezerrt, nicht auf das Wechselgeld gewartet, sondern die Tür hinter dem Trinkgeldgrinsen im Fahrergesicht zugeschlagen. Im Stechschritt ist er durch koffer- und zeitungsbewaffnete Reisendenarmeen marschiert, vorbei an bahnhöflichen Konsumkasernen. Einen Blumenstrauß kann ich ihr auch in Hamburg kaufen, hat er gedacht, ist zwei Rolltreppen im Zickzackkurs hinuntergestolpert, immer in Richtung Bahnsteig sieben. Sein Ticket hat er im Zug gelöst, bloß keine Zeit am Automaten verlieren.
Es kommt mir so vor, als hätte der Füller meine Hand geführt. Habe ich wirklich über den Flohmarkt geschrieben? Ich widerstehe dem Drang, den Eintrag noch einmal zu lesen. Das wäre ja lächerlich. Hungrig bin ich, habe kein Brot mehr, keinen Käse. Der Tankstellenshop an der Ecke ist sonntags geöffnet. Ob ich schnell hinuntergehe? Im Gefrierfach liegt bestimmt noch eine Pizza. Warum also raus? Aber das habe ich auch gestern gedacht, ebenso wie vor zwei Tagen, vor dreien. Nur ihm zuliebe habe ich die Wohnung an meinem Geburtstag verlassen, um zum Antikmarkt zu gehen. Kauf Dir was Schönes und genieße den Tag. Ich bin aus der Festung geschlichen, auf Zehenspitzen die Treppe hinuntergeeilt. Im Schatten der Haustür habe ich mich versteckt, nach rechts und links gespäht, um unbeobachtet auf den Gehweg zu treten, als wäre ich irgendeine Frau, nicht ich, als wäre heute irgendein Tag, kein Geburtstag, als sei dies irgendein Leben, nicht meines. Habe ich eben „Festung“ gesagt? Quatsch. Ich schiebe mir gleich eine Pizza in den Ofen. Scheiße, das Gefrierfach ist leer. Eine Dose gestückelte Tomaten steht noch im Kühlschrank. Der Tankstellenladen verkauft Brot und Aufschnitt, auch sonntags. In fünf Minuten wäre ich wieder in Sicherheit. Habe ich gedacht „in Sicherheit“? Genieße den Tag, hat er gesagt. Ich greife Tomatenbüchse und Öffner, sein Eisenzahn beißt erst die Dose, dann meine Hand, kein Schmerz, nur grenzenlose Gier auf Tomaten. Kopf in den Nacken, Unterlippe liebkost Blech, die rote Pampe rinnt in meine Kehle. Satt. Ich bleibe in der Wohnung, sperre die Sonne aus, schalte das Licht an. Morgen werde ich einkaufen gehen. Mein Füller liegt noch auf dem Küchentisch. Ich will meinem Tagebuch anvertrauen, warum ich heute drinnen bleiben muss.
Sein Ticket hat er im Zug gelöst, bloß keine Zeit am Automaten verlieren…
Der Rücken der Frau ist gekrümmt, während die Tinte aus ihrem Füller strömt, und sie presst ihre Wange beim Schreiben gegen die linke Schulter.
… Auf der eineinhalbstündigen Fahrt von Berlin nach Hamburg hat er sich vorgestellt, wie er seinen Schlüssel ins Schloss ihrer Wohnung stecken und leise herumdrehen wird. Zweimal, sie ist vorsichtig, auch am hellichten Tag. Wie ihr dumpfes „Hallo, wer ist da?“ durch das Holz dringen, und wie ein Schatten hinter dem Türspion erscheinen wird. Es wird ihr Schatten sein, ihre Augen, ihre wundervollen grünen Geburtstagsaugen. Ihre bösen Am-Vierzigsten-Geburtstag-Alleingelassen-Werden-Augen. Aber das wird er nicht gewusst haben, so viel wird er nicht überlegt haben. Er wird gedacht haben, dass sie sich freuen wird, wenn er heimkommt an ihrem Geburtstag, wenn er sie sehen will, ihr einen Blumenstrauß mitbringt an ihrem Geburtstag. Er wird gedacht haben, dass sie ihm das Geschenk zeigen wird, das sie von seinen 300 Euro gekauft haben wird. Er wird geahnt haben, dass sie einen Füller genommen haben wird, denn das tut sie jedes Mal, wenn sie sich von seinem Geld etwas Schönes kaufen darf. Sie wird ihm ihren neuen Füller auch tatsächlich gezeigt haben, ihren schwarzen Federhalter mit dem goldenen Blättergeflecht, der angeblich aus den zwanziger Jahren stammt. Sie wird ihren Füller erst seinem rechten Auge gezeigt haben, dann seinem linken. Dann wieder dem rechten, dann dem linken, dem rechten, dem linken. Mitten hinein, wie mit einer Harpune.
Die Frau wischt den Füller ab, schraubt die Kappe zu, schaut auf die letzten Zeilen, bevor sie das Heft auf ihrem Küchentisch zuklappt. Sie beginnt, diesen Tag zu genießen. ‚Rote Tinte sieht viel schöner aus als königsblaue.‘